Das Recht auf Nachteilsausgleich und Notenschutz leitet sich aus mehreren Gesetzesgrundlagen ab (u.a. Grundgesetz Art. 3 Abs. 3 Satz 2; Sozialgesetzbuch § 209 SGB IX Nachteilsausgleich; Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I § 6; exemplarisch für das Bundesland Nordrhein-Westfalen: Schulgesetz § 1 sowie der LRS-Erlass BASS: 14-01 Nr. 1).
Diese rechtlichen Bestimmungen stellen sicher, dass Schüler*innen mit einer Lese-Rechtschreibstörung (siehe Blogbeitrag: Lese-Rechtschreibstörung (LRS): Zur Definition und LRS-Testung) durch entsprechende Maßnahmen gefördert und unterstützt werden. Nachteilsausgleiche und Notenschutz greifen, wenn Schüler*innen aufgrund einer Behinderung, Beeinträchtigung oder eines besonderen Unterstützungsbedarfs ihre Leistungen nicht begabungsgemäß erbringen können.
Nachteilsausgleiche und Notenschutz dienen dazu, Benachteiligungen auszugleichen und damit Chancengleichheit herzustellen – und nicht dazu, Vorteile zu verschaffen!
Schulen sind verpflichtet, Nachteilsausgleiche und Fördermaßnahmen so einzusetzen, dass Schüler*innen mit LRS die notwendige Unterstützung erhalten, um erfolgreich zu lernen und gleichberechtigt an Leistungsüberprüfungen teilnehmen zu können. Dies gilt sowohl für die Primarstufe (Grundschule) als auch für die Sekundarstufen I und II.
Was ist der Unterschied zwischen Nachteilsausgleich und Notenschutz?
Nachteilsausgleich
Der Nachteilsausgleich zielt darauf ab, dass betroffene Schüler*innen die Möglichkeit erhalten, trotz ihrer Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben die gleichen schulischen Anforderungen zu erfüllen, ohne dass das Leistungsniveau gesenkt wird. Zusätzlich kann durch entsprechende Maßnahmen der (Leistungs-)Druck gesenkt, die Lernmotivation erhöht und einer Chronifizierung psychischer Begleitstörungen (z.B. Depressionen) entgegengewirkt werden. Der Nachteilsausgleich ist ein Recht der Schüler*innen, das bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gewährt werden muss.
Beispiele für Nachteilsausgleiche:
Schriftliche Arbeiten/Übungen
- angepasste bzw. stark verkürzte Aufgaben (sowohl in Deutsch als auch in den Fremdsprachen/anderen Fächern! Bei einer Grammatikarbeit sollten nicht mehr als 2-3 Regeln/Lernbereiche abgefragt werden.),
- angepasste Arbeitsblätter (größere Schrift mit größerem Zeilen- und Zeichenabstand, inhaltliche/farblich markierte Zeilenumbrüche),
- mehr Bearbeitungszeit (Vorsicht:*) bzw. Aufteilung der Arbeit/des Tests in mehrere Teile, die zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben werden,
- alternative Prüfungsleistungen (z.B. Präsentation/Referat anstelle der schriftlichen Arbeit, Vokabelkenntnisse mündlich abfragen),
- zusätzliche mündliche Erklärungen der Aufgabenstellungen, …
*nicht immer ist mehr Bearbeitungszeit für alle hilfreich (z.B., wenn das Kind keine grundlegenden Strategien erlernt hat, Fehler zu entdecken sowie zu korrigieren). Zudem ist zu bedenken, dass ein „Mehr an Bearbeitungszeit“ für das Kind auch wie eine „Strafe“ wirken kann (z.B., weil dadurch Pausenzeit verloren geht), weshalb eine individuelle Abwägung unbedingt notwendig ist!
Nutzung von (technischen) Hilfen
- PC/Laptop/Tablet (mit Pen) als Schreibhilfe für längere Texte,
- Lesehilfen (Lesepfeil, Leseschablone; Lesestift mit Sprachausgabe bzw. passende Vorlese-Apps, um sich Texte vorlesen zu lassen),
- Wörterbücher, Verwendung von Regelheften, Strategiekärtchen für schrittweises Vorgehen bei der Aufgabenstellung (z.B. erarbeitet mit der Förder- oder Lehrkraft), …
Methodisch-didaktische Hilfen
- Lückentext bei Diktaten (anstelle des ganzen Diktats),
- Multiple-choice-Fragen statt schriftlicher Ausarbeitungen/ Nacherzählungen (z.B. zum Überprüfen des Sinnverständnisses von Texten),
- differenzierte Hausaufgaben,
- Abfotografieren/Kopieren von Tafelbildern,
- Inhaltliche Bewertung von Teilschritten/ Teilergebnissen,
- Reduktion der Komplexität/des Umfangs von Aufgaben (z.B. weniger Aufgaben/weniger Text), …
Diese Maßnahmen können in allen Klassenstufen angewendet werden, von der Grundschule bis hin zu den (Abschluss-)Prüfungen.
Wichtig: Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs werden nicht im Zeugnis vermerkt, da sie keine Bevorzugung, sondern den Ausgleich einer Benachteiligung darstellen.
Notenschutz
Notenschutz bedeutet, dass bestimmte Leistungen im Bereich der Rechtschreibung und/oder des Lesens bei der Bewertung nicht berücksichtigt werden. Diese Maßnahme greift oft, wenn die Rechtschreib- bzw. Leseschwierigkeiten so stark sind, dass sie den schulischen Erfolg und/oder das psychische Wohlbefinden massiv beeinträchtigen.
Beispiele für die Auslegung des Notenschutzes:
- Rechtschreibfehler fließen nicht in die Bewertung schriftlicher Arbeiten ein und im Zeugnis gibt es keine eigene Note für die Rechtschreibung.
- In Klassenarbeiten, in denen der Inhalt zählt (z.B. Bildergeschichten schreiben, Sachunterricht o.Ä.), gibt es keine Punktabzüge für die Rechtschreibung.
- In Grammatikarbeiten wird nur das gewertet, was auch Teil des Lerninhaltes ist, der abgefragt wird (z.B. Entscheidung, ob bei Adjektiven ein -lich oder -ig als Endung richtig ist: nennt das Kind die Endungen alle richtig, schreibt die Adjektive aber alle groß, gibt es volle Punktzahl für das Erfüllen der Lernaufgabe).
- Unter Klassenarbeiten/Tests wird keine Note und keine Punktzahl geschrieben, sondern ein kurzer Satz, der den Lernfortschritt des Kindes markiert!
Im Gegensatz zum Nachteilsausgleich wird der Notenschutz im Zeugnis vermerkt.
Muss eine offizielle LRS-Diagnose bzw. ein Gutachten vorliegen?
Ganz im Allgemeinen muss vor allem bei uns in NRW mit Ausnahme von zentralen Abschlussprüfungen und dem Abitur keine „attestierte“ medizinische oder psychologische Diagnose und damit auch kein Gutachten vorliegen, um einen Nachteilsausgleich zu erhalten. Gemäß den oben genannten Gesetzesgrundlagen haben alle Schüler*innen mit entsprechenden Lernvoraussetzungen ein Anrecht darauf (das mag in anderen Bundesländern teilweise anders aussehen). Aus (schul-)praktischer Sicht werden jedoch häufig die Anforderungen an das Vorliegen einer LRS-Diagnose (siehe Blogbeiträge: Lese-Rechtschreibstörung (LRS): Zur Definition und LRS-Testung und IQ-Test & LRS-Testung: 3 fundamentale Fehlannahmen, die Du unbedingt kennen solltest!) von der Klassenstufe abhängig gemacht:
Klassenstufen 1-4
Für den Nachteilsausgleich in den ersten vier Schuljahren ist kein offizielles psychologisches oder ärztliches Gutachten über die Feststellung einer LRS-Diagnose erforderlich. Stattdessen ist eine pädagogische Feststellung der Schule auf Basis von Beobachtungen und schulischen Fördermaßnahmen ausreichend. Diese Feststellung bewertet das Lern- und Arbeitsverhalten sowie die Leistungen des Kindes unter Berücksichtigung schulischer, sozialer, emotionaler und kognitiver Faktoren.
Klassenstufen 5-7
Auch in diesen Klassenstufen reicht eine pädagogische Feststellung aus, um einen Nachteilsausgleich zu beantragen. Ein ärztliches oder psychologisches Gutachten auf Basis fundierter Diagnostik ist nicht zwingend erforderlich, solange die schulischen Beobachtungen den Bedarf ausreichend belegen.
Klassenstufen 8-10
In diesen Klassenstufen wird zunehmend der Nachweis eines ärztlichen oder psychologischen Gutachtens gefordert, insbesondere wenn der Nachteilsausgleich über längere Zeit gewährt werden soll oder wenn umfangreichere Maßnahmen notwendig sind. Es wird dann häufig empfohlen, zum Beispiel eine schulpsychologische Beratung hinzuzuziehen sowie eine fundierte Diagnostik durchführen zu lassen. Dies wird häufig so argumentiert, dass bestimmte Fördermaßnahmen bis zum Ende der Klasse 7 bereits hätten „fruchten“ müssen (was realistisch gesehen aber nicht immer der Fall ist; siehe dazu auch die Blogbeiträge LRS Symptome – Lesen, Schreiben, psychisches Wohlbefinden und LRS und nun? – 4 Ansätze für die Förderung) und daher „nachgewiesen“ werden muss, dass entsprechende Schwierigkeiten noch bestehen, die einen Nachteilsausgleich rechtfertigen.
Klassenstufen 11-13
Für die gymnasiale Oberstufe und insbesondere für das Abitur (wie auch für weitere zentrale Abschlussprüfungen) ist ein ärztliches oder psychologisches Gutachten zur Feststellung einer LRS in der Regel erforderlich. Diese formelle Diagnose bildet die Grundlage für die Entscheidungen der Schulleitung über den Nachteilsausgleich (vor allem in den Prüfungen). Zudem ist eine Genehmigung durch die Schulaufsichtsbehörde notwendig, um den Nachteilsausgleich in den Abiturprüfungen umzusetzen.
Genehmigung durch die Schulaufsichtsbehörde:
Bei der Beantragung von Nachteilsausgleichen für die Abiturprüfungen müssen die Maßnahmen in der Regel nicht nur von der Schulleitung, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde genehmigt werden. Diese Genehmigung stellt sicher, dass die Maßnahmen den Prüfungsrichtlinien entsprechen. Sie ist Voraussetzung für die Umsetzung des Nachteilsausgleichs in den Prüfungen.
Entscheidende Regelungen für Nachteilsausgleich und Notenschutz
- Bei Entscheidungen über die Versetzung oder die Vergabe von Abschlüssen dürfen die Leistungen im Lesen und Rechtschreiben nicht den Ausschlag geben.
- Besondere Schwierigkeiten im Rechtschreiben allein sind kein Grund, ein Kind für den Übergang in eine höhere Schulform als ungeeignet zu betrachten.
- Empfehlenswert ist es, einen Nachteilsausgleich bei den Lehrkräften durch ein formloses Anschreiben zu „beantragen“. Als besonders hilfreich werden hier zusätzlich konkrete Impulse der Fachkraft angesehen, die die Diagnostik (LRS-Testung) durchgeführt hat oder das Kind lerntherapeutisch begleitet. So können konkrete Ansatzpunkte für die Gestaltung eines individuellen Nachteilsausgleichs abgeleitet werden.
Fazit
Nachteilsausgleich und Notenschutz sind nicht nur wesentliche Instrumente, um Kindern mit Lese-Rechtschreibstörung (LRS) gleiche Bildungschancen zu bieten, sondern sie tragen auch entscheidend zum Erhalt des psychischen Wohlbefindens und der Lernmotivation der betroffenen Kinder bei. Nachteilsausgleiche bzw. ein Notenschutz helfen dabei, Belastungen zu verringern und den Kindern zu ermöglichen, ihr Potenzial zu entfalten.
Es gibt es zahlreiche schulpsychologische Beratungsstellen und Fachkräfte, die Eltern bei der Kommunikation mit den Lehrkräften sowie bei der Gestaltung des Nachteilsausgleichs unterstützen. Sie helfen dabei, den richtigen Weg zu finden, wie Nachteilsausgleiche und Notenschutz individualisiert umgesetzt und an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden können. Fachkräfte – wie auch ich – können zwischen Eltern, Lehrkräften und der Schulleitung vermitteln, um eine klare und angepasste Lösung zu erarbeiten, die dem Kind am besten hilft. Dies kann besonders wichtig sein, um den Prozess transparent zu gestalten und sicherzustellen, dass die Maßnahmen tatsächlich effektiv umgesetzt werden.
Eltern sollten daher nicht zögern, sich über die jeweiligen Landesregelungen zu informieren und aktiv auf ihre Rechte zu verweisen. Schulen sind verpflichtet, Nachteilsausgleiche zu gewähren, wenn entsprechende Voraussetzungen vorliegen. Es ist entscheidend, dass die betroffenen Kinder die notwendige Unterstützung erhalten, um gleichberechtigt am Unterricht und an Leistungsüberprüfungen teilnehmen zu können. So können schulische Erfolge ermöglicht und gleichzeitig einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens bzw. einer Chronifizierung psychischer Erkrankungen entgegengewirkt werden.
Literatur
Exemplarisch für das Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW):
- Runderlass des Kultusministeriums (1991). Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS). LRS-Erlass. Hier verfügbar.
- Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2017). Arbeitshilfe: Gewährung von Nachteilsausgleichen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und/oder besonderen Auffälligkeiten in der Primarstufe – Eine Orientierungshilfe für Schulleitungen. Hier verfügbar.
- Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2017). Arbeitshilfe: Gewährung von Nachteilsausgleichen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und/oder besonderen Auffälligkeiten in der Sekundarstufe I – Eine Orientierungshilfe für Schulleitungen. Hier verfügbar.
- Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2017). Arbeitshilfe: Gewährung von Nachteilsausgleichen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und/oder besonderen Auffälligkeiten für die Gymnasiale Oberstufe sowie für die Abiturprüfung – Eine Orientierungshilfe für Schulleitungen. Hier verfügbar.
- Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2024). Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I (Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I – APO-S I). Hier verfügbar.
- Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2023). Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung
in der gymnasialen Oberstufe (APO-GOSt). Hier verfügbar.
- Promovierte Psychologin (Master of Science, Dr. rer. nat.)
- Fachkraft für die Förderung bei Lese-Rechtschreibstörung bzw. Lerntherapie
- Autorin & Dozentin
- Mutter zweier Söhne