Ursachen der LRS und wie Du sie Deinem Kind erklärst

LRS Ursachen

Inhaltsverzeichnis:

Welche Ursachenfaktoren führen dazu, dass einem Kind oder Jugendlichen das Lesen und Schreibenlernen schwerer fällt als den gleichaltrigen Klassenkamerad:innen? Wer hat die Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben verursacht? Die Lehrkraft, die Eltern oder doch das Kind bzw. der Jugendliche selbst?

„Er/Sie muss sich einfach mehr anstrengen und mehr üben, das ist einfach nur Faulheit!“,

„Die Lehrkraft hat es nicht richtig unterrichtet.“,

„Die Eltern hätten zu Hause mehr üben sollen.“,

„Ich bin einfach dumm.“

– all das sind Aussagen rund um die Ursachen einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS), die die Komplexität der Entstehung nicht richtig und unvollständig abbilden. Sie stimmen so nicht wirklich.

NIEMAND hat Schuld an der Entstehung einer LRS, niemand hat sie verursacht (z.B. durch falsches oder ungenügendes Üben)! Nicht das Kind oder der Jugendliche selbst, nicht die Eltern, nicht die Lehrkraft.

Im Allgemeinen wird von einer Vielzahl an Einflussfaktoren ausgegangen, die bedingen, dass einem Kind das Lesen- und Schreibenlernen schwerer fällt und Lernfortschritte geringer ausfallen als bei Gleichaltrigen.

Es werden unterschiedliche Ursachen hinter der LRS vermutet, wobei bis heute noch nicht sicher gesagt werden kann, welchen Zusammenhang es zwischen verschiedenen Ursachenfaktoren der LRS und deren Zusammenspiel gibt.

Darüber hinaus wird vor allem beforscht, welche Faktoren in welcher Beziehung mit den entsprechenden Schwierigkeiten stehen – das lässt noch keine direkten kausalen Aussagen über die Ursächlichkeit zu. Es wird also zu diesem Thema noch sehr viel geforscht.

Über folgende, mit der LRS zusammenhängende Faktoren kann man relativ sichere Aussagen machen: Genetische Veranlagung, erschwerte Informationsverarbeitung im Gehirn und Umweltfaktoren (z.B. familiäres und schulisches Umfeld).

In diesem Artikel möchte ich diese Aussagen aufgreifen und Dir als Elternteil das (noch nicht vollständig erforschte) komplexe Bedingungsgefüge einer LRS beschreiben. Ich gebe Dir zusätzlich Impulse mit, wie Du es auch Deinem Kind in kindgerechter Form erläutern kannst.

Wichtig ist, dass all die folgend genannten Aspekte im Zusammenhang mit einer LRS erforscht wurden, das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass bei jedem Kind oder Jugendlichen auch all diese Faktoren gleichermaßen bedeutsam für die Entstehung der LRS sind. So unterschiedlich, wie die Fähigkeiten und Fehler im Rahmen einer LRS ausfallen (siehe Blogbeitrag: LRS Symptome – Lesen, Schreiben, psychisches Wohlbefinden), so individuell sind auch die Faktoren, die zur Entstehung einer LRS beitragen.

Genetische Veranlagung

Mit der Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte kann als bestätigt gelten, dass eine Veranlagung zu einer LRS von der Familie vererbt werden kann. So lässt sich häufig beobachten, dass mehrere Familienmitglieder diese Schwierigkeiten aufweisen oder in der Schulzeit aufwiesen.

Die Erblichkeit bei Lese- und Rechtschreibfähigkeiten macht ca. 50-60 % aus – hat ein Elternteil eine LRS, so ist die Wahrscheinlichkeit für das Kind erhöht. Wie aber oben schon beschrieben, reicht eine genetische Veranlagung als alleiniger Ursachenfaktor für eine LRS nicht aus.

Impulse für eine kindgerechte Erläuterung:

  • „Eine Lese-Rechtschreibstörung/LRS kommt in den meisten Familien öfter vor. Das bedeutet, dass eine oder mehrere Personen in der Familie das auch haben können (Mutter, Bruder, Onkel, Oma usw.).“
  • „Die Wahrscheinlichkeit, eine LRS zu haben, wird also irgendwie über unsere Gene weitergegeben. Du kannst Dir das eigentlich so vorstellen, wie das Vererben Deiner Haarfarbe, Augenfarbe, Körpergröße oder so. Kinder bekommen ja schon einiges von ihren Eltern mit, wenn sie noch im Bauch der Mutter/im Mutterleib sind. Und so kann eben auch dabei sein, wie gut man später lesen oder schreiben lernen kann.“

Erschwerte Informationsverarbeitung im Gehirn

Verschiedene Bereiche im Gehirn, die für die Verarbeitung visueller und auditiver Informationen sowie unterschiedliche Denk- und Wahrnehmungsprozesse verantwortlich sind, sind bei Vorliegen einer LRS häufig nicht ausreichend miteinander verbunden (neurobiologische bzw. neuropsychologische Faktoren). Eine verzögerte und geringere Aktivierung dieser Regionen zeigt sich u.a. darin, dass

  • Informationen langsamer bzw. schlechter verarbeitet werden, z.B.
    • Störung der Wahrnehmung und Verknüpfung von Lauten und Buchstaben (z.B. einzelne Laute in einem Wort erkennen; Silben und Reime „heraushören“; = Phonologische Bewusstheit),
    • geringere verbale Benenngeschwindigkeit visueller Symbole (z.B. können dargestellte Buchstaben nicht auf Anhieb schnell benannt werden),
    • zusätzlich möglich: schon früh Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Sprache (Verbindung früher Sprachfähigkeiten mit späteren Lese-Rechtschreibleistungen).
 
  • Informationen schlechter abgespeichert und abgerufen werden können, z.B.
    • Schwächen in der kurzfristigen Speicherung und Aktivhaltung verbaler Informationen (z.B. Merken von Lauten bei diktierten Wörtern; = Phonologisches Arbeitsgedächtnis),
    • Schwächen im Abruf aus dem Langzeitgedächtnis (z.B. von gespeicherten Wortrepräsentationen für das automatisierte, flüssige Lesen oder die Bedeutung von Wörtern).
 
  • Zusätzlich können Störungen der Aufmerksamkeitssteuerung dazu kommen, die die Informationsaufnahme und -verarbeitung erschweren.

Impulse für eine kindgerechte Erläuterung:

  • „Dein Gehirn arbeitet ein bisschen anders – deshalb fällt es Dir schwer, Buchstaben richtig wahrzunehmen, kurz zu merken oder zu erinnern. Und dann fällt es Dir schwerer, ganze Wörter oder Texte zu lesen und zu schreiben. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Du faul oder nicht schlau bist. Ganz im Gegenteil sehe ich ganz oft, wie sehr Du Dich anstrengst, wie viel Mühe Du Dir gibst und dass Du im Alltag (und in den anderen Schulfächern) ganz viele unterschiedliche Strategien anwendest, um Probleme zu lösen.“
  • „Weißt Du – das Gute ist, dass wir gemeinsam lernen können, wie es Dir leichter fällt, auch für das Lesen und Schreiben solche Strategien zu nutzen.“

Umweltfaktoren

Zu den vererbbaren Ursachen der LRS und der erschwerten Informationsverarbeitung im Gehirn kann oftmals noch hinzukommen, dass die Lernumwelt des Kindes (z.B. in der Schule oder zu Hause) mit ihrem Lernangebot nicht zu den speziellen Bedürfnissen des Kindes oder Jugendlichen mit der LRS passt (z.B. Unterstützung nicht differenziert genug).

Diese Beteiligung des familiären und schulischen Umfeldes ist jedoch in Bezug auf die Entstehung einer LRS noch unzureichend erforscht. Deutliche Befunde gibt es jedoch dahingehend, dass die familiäre Leseumwelt und die Beschäftigung mit der Schrift innerhalb des familiären Umfelds einen positiven Einfluss auf die (späteren) Lese- und Rechtschreibleistungen ausübt.

Wie Forschungsbefunde zeigen, kann aber im Umkehrschluss eine mangende familiäre Leseumwelt nicht als Verursachungsfaktor einer LRS angesehen werden.

Auch spielen individuelle emotional-motivationale Faktoren des Kindes (z.B. Lern- und Leistungsbereitschaft, Fähigkeitsüberzeugungen) in Bezug auf die schriftsprachlichen Leistungen eine besondere Rolle, die wiederum auch von den Eltern (und auch den Lehrkräften in der Schule) unterstützt werden können.

Impulse für eine kindgerechte Erläuterung:

  • „Du siehst also, wir können gar nicht beeinflussen, ob man jetzt eine LRS bekommt oder nicht. Sowohl unsere Gene, als auch die Arbeitsweise unseres Gehirns können wir ja nicht wirklich steuern. Es ist also niemand schuld an der LRS. Was wir aber steuern können, ist wie wir damit umgehen – in der Schule und zu Hause. Denn manchmal passt der Unterricht in der Schule nicht so gut zu den Besonderheiten bei einer LRS oder auch zu Hause ist es manchmal nicht so einfach. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir gemeinsam nach Unterstützung schauen, die Dir wirklich helfen kann.“
  • „Und weißt Du, Du hast so viele besondere Stärken, die Dir auch beim Lesen- und Schreibenlernen helfen können (einiges aufzählen: Kreativität, Problemlösefähigkeit, Anstrengungsbereitschaft, Motivation usw.).“
  • „Und es ist so Vieles möglich: Du kannst einen Schulabschluss machen, Du kannst studieren, Du kannst aus einer Auswahl unterschiedlicher Berufe wählen, Du kannst das Lesen und Schreiben für Dich nutzen (z.B. Freunden über das Handy schreiben). Ich bin da und helfe Dir da hinzukommen, wenn Du das möchtest!“

Fazit

Eine LRS wird niemals nur durch einen (defizitären) Faktor ausgelöst und die Entstehung oder Nicht-Entstehung ist vor allem nicht steuerbar. Es handelt sich um eine Vielzahl an Faktoren, die die Entstehung in einem komplexen Zusammen- und Wechselspiel beeinflussen (genetische Veranlagung, erschwerte Informationsverarbeitung im Gehirn, Umweltfaktoren, individuelle emotional-motivationale Faktoren des Kindes).

Wichtig ist, genau diese Komplexität immer vor Augen zu haben und sich bewusst zu machen, dass niemand Schuld an der LRS hat: Eine LRS entsteht nicht, weil

  • zu wenig für die Schule geübt wird,
  • die Erziehung nicht „gut genug“ ist,
  • der schulische Unterricht schlecht ist,
  • das Kind oder der Jugendliche faul oder nicht schlau ist
  • und das Kind oder der Jugendliche schlecht sieht oder hört (siehe Blogbeitrag: Lese-Rechtschreibstörung (LRS): Zur Definition und LRS-Testung).
 

Stärken wir unseren Kindern den Rücken, begegnen wir ihnen immer wertschätzend und sprechen wir ihnen Mut und Zuversicht zu (auch in Bezug auf die Zukunft). Auch, wenn es einen genetischen und neurobiologischen Anteil gibt, den wir teilweise nicht beeinflussen können, können die betroffenen Kinder und Jugendlichen durchaus in eine positive (akademische) Zukunft blicken.

Wenn wir als Eltern daran glauben und ihnen die Unterstützung zukommen lassen, die sie wirklich benötigen, dann können auch die Kinder und Jugendlichen selbst eine solche Überzeugung entwickeln und die LRS als „nicht steuerbare Störung“ hinter sich lassen.

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Dr. Nicole J. Fritzler
  • Promovierte Psychologin (Master of Science, Dr. rer. nat.)
  • Fachkraft für die Förderung bei Lese-Rechtschreibstörung bzw. Lerntherapie
  • Autorin & Dozentin
  • Mutter zweier Söhne