Wusstest Du, dass in einer durchschnittlichen (Grundschul-)Klasse mit etwa 30 Schüler:innen ca. 2-3 dieser Kinder so erhebliche und langandauernde Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Schreibens haben, dass eine Lese-Rechtschreibstörung (LRS) festgestellt werden kann?
Und wusstest Du, dass die Schwierigkeiten im Rahmen dieser Störung ohne angemessene Förderung bis ins Erwachsenenalter anhalten und damit knapp 7 % der deutschen Erwachsenen davon betroffen sind?
Wie stabil und beeinträchtigend diese Störung sowie ihre Begleitsymptome – auch im Erwachsenenalter – sind, hängt allerdings in hohem Maße davon ab, ob und welche Unterstützung dem Kind bereits im frühen Schulalter zukommt.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit einer LRS ohne eingeleitete Förderung nicht nur in Bezug auf den Schulerfolg deutlich schlechter abschneiden, sondern auch psychische Symptome entwickeln können (z.B. Depressivität, Ängste) und ihre Zukunftsprognose eher ungünstig ausfällt. So weisen Betroffene im Erwachsenenalter häufiger weniger qualifizierte Berufsabschlüsse auf und sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen.
Außerdem können sich psychische Symptome zu stark beeinträchtigenden psychischen Störungen (z.B. Depressionen, Alkoholkonsum) entwickeln.
Eine LRS-Diagnose stellt somit nachweislich ein deutliches Entwicklungsrisiko nicht nur in Bezug auf den Schul- und Berufserfolg, sondern auch die psychische Gesundheit der Betroffenen dar.
Deshalb ist es unbedingt notwendig, diese Störungen bei Kindern und Jugendlichen möglichst schnell zu erkennen und zuverlässig zu diagnostizieren, um frühzeitig Fördermaßnahmen sowohl für die Kinder und Jugendlichen selbst, als auch für ihre Eltern (z.B. Anleitung zu psychologisch wertvoller Unterstützung zu Hause) ergreifen zu können.
In diesem Artikel erfährst Du deshalb, wie die Lese-Rechtschreibstörung (LRS) definiert und festgestellt wird. Mit dieser Orientierung wird es Dir leichter fallen, einzuschätzen, welche nächsten Schritte für die Unterstützung Deines Kindes sinnvoll sind.
Wie wird die Lese-Rechtschreibstörung (LRS) definiert?
Zur Klassifikation der Lese- und/oder Rechtschreibstörung (siehe Exkurs: Welche Formen gibt es noch?) wird die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) verwendet.
Neben einer kombinierten Störung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten (Lese-Rechtschreibstörung, LRS) lässt sich mithilfe der ICD-10 auch eine isolierte Rechtschreibstörung feststellen. Die Betroffenen weisen damit gravierende und andauernde Schwierigkeiten im Erwerb des Rechtschreibens, nicht aber des Lesens auf. Die Lesefähigkeiten bewegen sich damit auf einem mindestens durchschnittlichen Niveau.
Darüber hinaus zeigt eine Vielzahl an aktuellen wissenschaftlichen Studien, dass auch isolierte Lesestörungen auftreten können, ohne dass gravierende Schwierigkeiten im Rechtschreiben zu beobachten sind. Deshalb wird in der aktuellen Überarbeitung der ICD-10 (dann: ICD-11) die isolierte Lesestörung ebenso aufgenommen.
Die zentralen Kriterien der LRS

Wie werden diese Kriterien überprüft?
Fassen wir die genannten Kriterien nochmal kurz zusammen.
Eine Lese-Rechtschreibstörung (LRS) im Sinne der ICD-10 wird diagnostiziert,
- wenn das Kind erhebliche Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben aufweist, die deutlich unter der alters- und klassentypischen Durchschnittsleistung liegen (das „einfache Diskrepanz-Kriterium“ wird erfüllt – die Abweichung der Lernleistung von der Norm) und
- die Lernleistung außerdem deutlich unterhalb des Niveaus liegt, welches aufgrund der Intelligenz zu erwarten wäre (damit wird der zweite Teil des „Doppelten Diskrepanz-Kriteriums“ erfüllt; siehe Blogartikel: IQ-Test & LRS-Testung: 3 fundamentale Fehlannahmen, die Du unbedingt kennen solltest!).
- Zudem muss ausgeschlossen werden, dass die Schwierigkeiten nicht durch eine allgemeine Lernschwäche zustande kommen, die das kognitive Potential, also die Intelligenz des Kindes betrifft (der IQ-Wertebereich wird mittels Intelligenztest erfasst und sollte also > 70 sein),
- das Kind keine Erkrankung auf neurologischer Ebene aufweist und altersangemessen hören und sehen kann und
- es regelmäßig schulischen Unterricht besucht hat und damit keinen verminderten Zugang zu Bildungschancen hatte.
- Schließlich müssen ein Leidensdruck eine Beeinträchtigung durch die Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben erkennbar sein – das kann sich auf die Leistungen in der Schule, die Lernmotivation, das Selbstvertrauen, das psychische Wohlbefinden o.Ä. beziehen.
Häufig werden die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung (LRS) und Legasthenie als Ausdruck gravierender und anhaltender Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens synonym verwendet.
Der Begriff Legasthenie stammt ursprünglich aus dem medizinischen Bereich, in dessen Sichtweise die entsprechenden Schwierigkeiten durch medizinische, biologische und genetische Ursachen erklärbar seien. Damit gleiche die Legasthenie (die historisch gesehen zeitweise sogar als Behinderung betitelt wurde!) einer medizinischen Krankheit oder Störung, deren Veränderung oder gar „Heilung“ kaum möglich sei.
Heute wissen wir durch zuverlässige Forschung, dass es durchaus einen biologischen und genetischen Anteil gibt, der die Entstehung einer Störung im Schriftspracherwerb mit bedingen kann, es aber vor allem zu einem komplexen Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren kommt (z.B. auch schulische und häusliche Lernumwelt, emotionale Faktoren), wenn auch die genauen Ursachen und das konkrete komplexe Zusammenspiel dieser noch nicht ausreichend erforscht sind (siehe Blogartikel: Ursachen der LRS und wie Du sie Deinem Kind erklärst).
Und: Durch geeignete Förderung (siehe Blogartikel: LRS und nun? 4 Ansätze für die Förderung), die am individuellen Entwicklungsstand und den vorhandenen Potentialen und Ressourcen ansetzt, können die Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben durchaus ins Positive verändert, die psychische Entwicklung des Kindes (z.B. Selbstvertrauen, Wohlbefinden) positiv beeinflusst und damit eine sicherere Zukunft des Kindes gestaltet werden.
Fazit: Obwohl sich das Bild der Legasthenie in den letzten Jahren ziemlich stark gewandelt hat, ist der oftmals vorschnelle Ausdruck „ein/e Legastheniker:in zu sein“, auch heute noch häufig mit einem negativen Beigeschmack einer nicht veränderbaren (schicksalhaften) Störung behaftet. Obwohl es keine eindeutig einheitliche Abgrenzung gibt, nutzen viele diesen Begriff nicht mehr und sprechen von einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS).
Um die Kriterien für eine LRS-Diagnose zu überprüfen, werden
- verschiedene psychometrische Testverfahren, also Diagnostik-Tests (u.a. zur Erfassung der Intelligenz sowie Fähigkeiten im Lesen und Schreiben; bei besonderem Anliegen auch zu weiteren Aspekten wie Rechenfähigkeiten, Aufmerksamkeit, Konzentration etc.),
- Verhaltensbeobachtungen (z.B. in der Testsituation) und
- ggf. weitere Fragebögen (z.B. zur Lernmotivation) mit dem Kind durchgeführt.
- Es werden Anamnesegespräche mit den Eltern (u.a. über die familiäre Situation und die Entwicklung des Kindes) geführt und häufig auch
- Fremdbeurteilungen mithilfe geeigneter Fragebögen zu verschiedenen Themen (z.B. emotionale oder Verhaltensauffälligkeiten des Kindes) durch die Eltern und ggf. auch die Lehrkräfte vorgenommen.
Es gibt also nicht „den einen LRS-Test“ – sondern es werden ganz im Gegenteil mehrere Testungen durchgeführt und unterschiedliche Perspektiven herangezogen. Im Idealfall werden die Schwierigkeiten mit entsprechend normierten und standardisierten Tests gemessen, die es erlauben, die Leistungen des Kindes in Bezug zu den Leistungen Gleichaltriger und der Intelligenz des Kindes zu bewerten.
Alle Informationen werden dann zu einem Gesamtbild zusammengesetzt und daraus abgeleitet, ob eine Lese-Rechtschreibstörung (LRS) vorliegt und damit eine LRS-Diagnose im Sinne der ICD-10 Kriterien gestellt werden kann oder nicht.
Diese objektive Feststellung ist an vielen Stellen verpflichtend vorzuweisen, wenn es darum geht, eine angemessene Unterstützung zu realisieren (z.B. in Bezug auf Nachteilsausgleiche in der Schule).
Genauso wichtig ist es, mittels qualitativer Analysen abzubilden, an welcher Stelle das Kind oder der Jugendliche in der Entwicklung des Lesen- und Schreibenlernens steht, an welchen Schwierigkeiten genau angesetzt werden kann und welche Ressourcen vorhanden sind.
Nur so können effektive Fördermethoden (siehe Blogbeitrag: LRS und nun? 4 Ansätze der Förderung) passend zum individuellen Fähigkeitspotential und „Störungsprofil“ angeboten werden.

Fazit
Wenn Schwierigkeiten im Lesen und/oder Schreiben vorliegen und das Kind oder den Jugendlichen erkennbar beeinträchtigen, dann sollte bereits das die Notwendigkeit einer passenden Unterstützung signalisieren – ob mit oder ohne Normabweichung oder Diskrepanz zum individuellen Intelligenzniveau.
Wir sollten jedoch erkennen, dass wir uns (als Eltern) diesen Schwierigkeiten durch eine angemessene und umfassende Einschätzung der Lese-Rechtschreibfähigkeiten, des allgemeinen Fähigkeitspotentials, begleitender (psychischer) Schwierigkeiten sowie vorliegender Ressourcen stellen sollten.
Denn nur dadurch können wir unseren Kindern die Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigen, um am gesellschaftlichen Leben so unbeeinträchtigt wie möglich teilhaben und in eine positivere Zukunft blicken zu können – unter welcher Überschrift auch immer.
Literatur
Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H., & Schulte-Markwort, E. (2011). Weltgesundheitsorganisation – Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis (5., überarbeitete Auflage). Verlag Hans Huber.
Esser, G., Wyschkon, A., & Schmidt, M. H. (2002). Was wird aus Achtjährigen mit einer Lese-Rechtschreibstörung. Ergebnisse im Alter von 25 Jahren. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 31, 235-242. https://doi.org/10.1026/0084-5345.31.4.235
Fischbach, A., Schuchardt, K., Mähler, C., & Hasselhorn, M. (2010). Zeigen Kinder mit schulischen Minderleistungen sozio-emotionale Auffälligkeiten? Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 42, 201-210. https://doi.org/10.1026/0049-8637/a00002
Fischbach, A., Schuchardt, K., Brandenburg, J., Klesczewski, J., Balke-Melcher, C., … & Hasselhorn, M. (2013). Prävalenz von Lernschwächen und Lernstörungen. Zur Bedeutung der Diagnosekriterien. Lernen und Lernstörungen, 2, 65-76. https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000035
Schulte- Körne, G. (2021). Verpasste Chancen: Die neuen diagnostischen Leitlinien zur Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung der ICD-11. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 49, 1-5. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000791
Wyschkon, A., Schulz, F., Gallit, F. S., Poltz, N., Kohn, J., Moraske, S., Bondü, R., von Aster, M., & Esser, G. (2018). 5-Jahres-Verlauf der LRS: Stabilität, Geschlechtseffekte, Schriftsprachniveau und Schulerfolg. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 46(2), 107-122. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000535
- Promovierte Psychologin (Master of Science, Dr. rer. nat.)
- Fachkraft für die Förderung bei Lese-Rechtschreibstörung bzw. Lerntherapie
- Autorin & Dozentin
- Mutter zweier Söhne